Auszug aus dem Erlebnisbericht einer
Radtour durch Nordchile, Bolivien und Südperu
Autor: Jens-U. Groß
Irrfahrt zum Tatio
Ortsausgang Rio Grande, ein kleines Dorf in den
nordchilenischen Anden in 3200 Meter Höhe. Heftig schüttelt der Pick-Up-Fahrer
mit dem Kopf. Mit dem Fahrrad nach Machuca? No posible! Seinen weiteren
Redeschwall können wir mangels bekannter Vokabeln nicht mehr verstehen. Diese
erste Warnung schlagen wir in den Wind. Die chilenische Straßenkarte mit dem
dünnen Strich bis zum Tatio straft den Einheimischen Lügen, auch die
Information des Touristenbüro von Calama war eindeutig. Es muß neben den beiden
in der Touristikliteratur angegeben Pisten zum Tatio-Geysir eine dritte
Variante geben, die uns 1000 Höhenmeter erspart. Diese zu finden und zu
meistern haben wir uns in den Kopf gesetzt.
Mit ungebrochenem Optimismus strampeln wir
deshalb die Piste am Ufer des Rio Grande weiter aufwärts. Wenige Minuten später
müssen wir den Fluß queren. Brücken gibt‘s hier oben keine mehr. Schuhe und
Socken aus, Hosen hochgekrempelt -, durch. Die kalten Fluten umspülen unsere
nach Halt suchenden Füße und die wasserdichten Ortlieb-Packtaschen. Letzter
bieten dem Wasser jedoch eine große Angriffsfläche und wir sind froh, das
rettende andere Ufer ohne Ausrutscher zu erreichen.
Die zweite Warnung naht in Gestalt einer
alten Indiofrau, die mit ihrem Enkel Schafe talabwärts treibt. Ein kurzer
Schwatz mit Händen und Füßen. Handbewegung und Kopfschütteln sind eindeutig:
Mit dem Fahrrad nach Machuca? No posible! Noch immer mit dem Kopf schüttelnd
tappert sie weiter. Diese Gringos! Doch wir wollen nach Machuca und weiter zu
den Tatio-Geysiren! Zurück? Niemals! Wir werden’s schon schaffen.
Das Tal verengt sich, der Weg schmiegt sich
an den Hang. Hier ist Schluß für jedes noch so geländegängiges Fahrzeug. Dritte
Warnung! Doch mit dem Fahrrad kommen wir durch, können nach der Engstelle sogar
wieder in den Sattel steigen. Also weiter.
Kurz darauf ist der Fluß zu queren. Der Weg
dahinter ist ernüchternd, aber auch diese vierte Warnung nehmen wir nicht wahr,
nur in Lutz seine Gesichtszüge mischen sich zunehmend Zweifel: Das Flußtal
verlassend steigt er am Hang stetig und kräftig an und verschwindet ca. 150
Höhenmeter weiter oben hinter dem Kamm. Unsere Füße krallen sich in den
lockeren Belag, rutschen zurück, die Arme zerren am Fahrrad, das mit je 25 kg
Gepäck und 10 Litern Wasser reichlich bepackt ist. Nur mühsam überwinden wir
die Gesetze der Gravitation und schinden uns zwei Stunden lang. Als es zu
schwer wird, lösen wir von unseren Packtaschen die Riemen und verwenden sie als
Tragegurt. Wie die Wolgtreidler stemmen wir uns in den Riemen, den wir durch
den Rahmen gezogen haben. So Können wir die Räder wenigstens ein wenig aus den
losen Untergrund herausheben. Der Rücken schmerzt entsetzlich durch die
ungewohnte Belastung. Hätten wir nicht doch umdrehen sollen, vielleicht an der
letzten Flußquerung? Doch jetzt haben wir diesen Paß bezwungen, 3510 Meter
zeigt der Höhenmesser, jetzt geht es bergab. Also weiter nach Machuca!
Von weitem sehen wir ihn auf einem Fels
sitzen, einen spinnenden und Schafe hütenden Indio - unsere fünfte Warnung. Bis
nach Machuca seien es noch acht Kilometer, nur bergauf und eine Wegebesserung
ist nicht in Sicht. Doch wir hoffen auf bessere Piste ab Machuca und kämpfen
uns weiter über den geröllbedeckten Weg, der bald zum Eselspfad mutiert.
An einer schmalen Stelle kommen das Fahrrad
und ich kaum noch nebeneinander durch. Ich schleife mein Gefährt mit seinen
ausladenden Packtaschen dicht am senkrecht ansteigenden Felshang entlang, habe
kaum Platz für mich zwischen Fahrrad und Abhang. Als der Stein, auf dem ich
stehe, unter mir nachgibt, kann ich schnell noch einen rettenden Schritt
vorwärts machen und erreiche ein breiteres Wegstück. Ich schaue mich um und mir
wird bewußt, daß ich zwar den Sturz in den Bach drei Meter unter mir
voraussichtlich erst mal lebend überstanden hätte, das nachstürzende Fahrrad
samst Gepäck aber hätte mich wohl erschlagen. Noch etwas zitternd vor Schreck
warne ich meine beiden Nachfolger. Lutz entdeckt an den Felsen eine warnende
Aufschrift: "Achtung hier nicht mit Eseln weiter gehen." Und möchte
am liebsten umkehren. Doch der Gedanke den Weg mit seinen Strapazen wieder in
entgegengesetzter Richtung zu bewältigen ist genauso schrecklich wie der Weg
vor uns. Also weiter! Gemeinsam balancieren wir die Räder über die Engstelle
und gehen weiter .
Gegen 17 Uhr hat einer von uns mit
ernsthaften Ermüdungserscheinungen zu kämpfen. Als wir noch einen zweihundert
Meter langen Abschnitt passiert haben, wo wir Fahrrad und Gepäck nur einzeln
durchbugsieren können und so jeder drei oder viermal gehen mußte, stellen wir die
Fahrräder ab. Während Lutz auf unsere Utensilien aufpaßt, pilgern Thomas und
ich weiter, um einen Platz fürs Zelt ausfindig zu machen. Wir laufen 10 Minuten
talaufwärts. Der Weg scheint sich fast zu verlieren. Da es bis Machuca nicht
mehr weit sein kann, geht Thomas zurück, ich erkunde den weiteren Weg. Im
Eilmarsch, soweit meine Kräfte dies noch hergeben, laufe ich weiter. Die
Einsamkeit der Berge hat mich eingeschlossen. Es ist ein tolles und
gleichzeitig beängstigendes Gefühl. Als sich das sonst so enge Tal weitet,
glaube ich , Machuca erreicht zu haben. Nur hier kann das Dorf sein, davon bin
ich überzeugt. Doch bald bietet sich meinen Augen eine große, mit gelben Gras
bedeckte, sumpfige Talweitung. Keine Menschenseele und keine Behausung ist zu
entdecken. Doch hier, wo es flach ist, wird der Weg besser. Ich schaue vor mir
auf den Pfad und entdecke - kaum zu glauben - Motorradspuren! Ist doch ein Dorf
in der Mähe? Also weiter bis zur die nächste Talbiegung. Nun ist eine Stunde
vergangen, von einer Anhöhe habe ich Blick auf die nächsten 3 .. 4 Kilometer
des Tales, es ist unbewohnt! Ich kehre enttäuscht um, am Ende meiner Kräfte.
Auf dem Rückweg wird mir bewußt, was es
bedeutet, diesen Abschnitt mit Gepäck und Fahrrad zu bewältigen. Auf weiten
Strecken müßte Fahrrad und Gepäck einzeln befördert werden, ein zeit-, nerv-
und kraftraubendes Pensum. Bis nach Machuca bräuchten wir noch mehr als einen
halben Tag, mindestens. Was danach kommt, wissen wir auch nicht. Zu den anderen
zurückgekehrt, teile ich Ihnen das Ergebnis meines Marsches mit und empfehle
die Umkehr.
Wir waschen uns im kalten Bach, schlürfen
ein Süppchen und kuscheln uns in die Schlafsäcke. Die Entscheidung, in welche
Richtung wir unsere Schritte lenken werden, heben wir für den nächsten Morgen auf.
Beim Frühstück in der Morgendämmerung diskutieren wir nicht mehr lange herum.
Wir sind uns einig, es geht zurück. Zu ungewiß wäre der Weg talaufwärts gen
Machuca, dessen Existenz wir langsam bezweifeln.
Auf dem Rückweg ist alles einfacher als
befürchtet. Bereits 12 Uhr sind wir in Rio Grande und treffen den Pickup-Fahrer
wieder. Er schmunzelt und zeigt, wie schon 24 Stunden vorher, auf den mächtigen
Gebirgszug jenseits des Rio-Grande-Flusses. Die für uns nicht sichtbare aber in
unseren Karten ebenfalls eingetragene Piste führt zu den Tatio-Geysiren und sei
mit dem Fahrrad passierbar. "Con Vehiculo a Tatio?" fragen wir und
zeigen auf ihn, seinen Pickup, auf uns und unsere Fahrräder. Uns drängt die
Zeit, der Weg durch Bolivien bis nach Cusco in Peru ist noch weit. Doch ein
Kopfschütteln läßt uns die verlockende Vorstellung wieder vergessen, auch die
Suche nach anderen Mitfahrgelegenheiten ist erfolglos. Die Straße sei zu
schlecht, redet man sich heraus. "A Carretera possible". Bis zur
Asphaltpiste Calama - San Pedro könne man uns bringen. Das wäre auch nicht ganz
schlecht, doch wir scheitern an den Preisverhandlungen. Der Fahrer kratzt mit
einem Dorn eine 25.000 auf seinen Handrücken, das sind fast 100 DM für 40
Kilometer. Für chilenische Verhältnisse etwas überspannt, meinem wir, füllen
alle Wasserflaschen auf, schwingen uns in die Sattel und strampeln noch acht
Kilometer zurück an die Stelle, wo wir zwei Tage vorher gezeltet haben. Hier
zweigt die Piste zum Tatio ab. Wir sind uns unschlüssig. Fahren wir zurück zur
Asphaltstraße, weiter nach San Pedro de Atacama und über die
"offizielle" Piste zu den Geysiren - das sind weit mehr als
zweitausend Höhenmeter, knapp 200 meist unbefestigte Kilometer und dauert drei
bis vier Tage. Oder lassen wir uns auf ein neues Abenteuer mit ungewissen
Ausgang und schlecht abschätzbaren Zeitaufwand ein und wählen die
voraussichtlich kaum befahrene aber mit 90 Kilometer kürzere Piste?. Zwei Tage
mindestens, eher drei oder vier, vermuten wir. Aber es sind nur knappe tausend
Höhenmeter.
Die ersten paar Hundert Meter der direkten
Piste führen so steil hinauf, daß wir die Räder stehen lassen und zu Fuß die
Lage sondieren. Der Belag der Piste besteht aus lockerem feinen Schotter und
Sand, es ist ernüchternd. Fast haben wir uns zum Umweg über San Pedro
entschlossen, als wir scheinbar fast gut befahrbare Pistenabschnitte erreichen.
Uns alle lockt das Abenteuer, dieses schier endlos vor uns liegende stetig
ansteigende Plateau zu meistern, es doch auf der uns in den Kopf gesetzten dritten
Variante zu schaffen. Wir kehren zu unseren Rädern zurück, buckeln sie das
Steilstück hinauf, schwingen uns in den Sattel und kurbeln der Ungewißheit
entgegen.
Die gut befahrbaren Abschnitte sind kurz.
Absteigen, schieben und zerren, bis der lockere und/oder steile Abschnitt
hinter mir liegt. Das dauert manchmal lange, ist nervend. War es doch falsch,
diesen Weg einzuschlagen? Nein, ich will weiter auf diesem Weg, diesem
direkten. Auf schon bekanntem Weg nun doch zurück zur Asphaltpiste fahren zu
müssen, über San Pedro zum Tatio mit einem Höhenunterschied von fast 2000
Metern, und dann auf gleichem Weg zurück - dieser Gedanke ist schreckt mich ab.
Mit wilder Entschlossenheit kämpfe ich mich durch die vielen Schiebeabschnitte
und hoffe daß keiner meiner Gefährten auf die Idee kommt, umzukehren. Weiter,
weiter, weiter. Irgendwie und irgendwann werden wir am Tatio sein und die
Geysire bewundern!
Es ist eine riesige geneigte Ebene, über die
wir uns nach oben kämpfen. Die Horizontlinie vor uns liegt weit weg, doch was
ist dahinter? Diese Frage treibt uns vorwärts. Die Antwort ist meist
ernüchternd. Haben wir eine solche imaginäre Linie erreicht, bietet der Blick
dahinter meist nichts neues, soweit das Auge reicht. Am späten Nachmittag Piste
kreuzt unsere Piste eine wie mit dem Lineal gezogene Gerade, die sich durch die
riesige Schotterebene von Norden aus dem Nirgendwo kommend in Richtung Süden
bis zur nahen Hangkante hinzieht, wo das Plateau jäh steil in das Tal des Rio
Grande abfällt. Eine mannshohe Steinpyramide ist uns ein willkommener
Fahrradständer und Gelegenheit für Thomas, nach seinen Lowriderschellen an der
Federgabel zu sehen. Während er und Lutz die durch die Rüttelpisten gelockerten
und verrutschten Schellen wieder ausrichten, laufe ich zur Hangkante und
entdecke ein Schild: "Camino del Inka". Unsere Ahnung war richtig,
wir stehen an einem der legendären Inkawege, die das Reich einst durchzogen und
erschlossen.
Zeltmöglichkeiten sind in dieser von Steinen
übersäten Fläche rar. Als wir eine halbe Stunde vor der Dämmerung eine kleine
sandige Fläche bemerken, gerade groß genug fürs Zelt, beenden wir unser
Tagewerk.
Es ist noch beinah dunkel, als das Piepsen
meiner Armbanduhr die endlose Stille durchbricht und wir uns aus den
Schlafsäcken mühen. Ein langer ungewisser Tag beginnt. Ein kurzes stärkendes
Frühstück und los geht´s - mit Schieben. Sand, Schotter, Steigung - Fahren
unmöglich. Dies bleibt den ganzen Tag so, mit nur wenigen Ausnahmen. Doch mein
Optimismus und meine Kraft sind ungebrochen. Der Kick des Abenteuers und die
physische Herausforderung - ich habe es so gewollt, meine Stimmung ist bestens.
Meist bin ich an der Spitze, kämpfe mich Steilstücke hinauf, stelle das Rad ab,
laufe zurück und helfe den anderen. "Wo nimmst Du nur die Kraft her",
fragt mich Thomas. Irgendwie bin ich absolut gut drauf, so richtig in meinem
Element und könnte vor Glück laut jubeln. "Wie ist die Stimmung?",
frage ich Lutz und hoffe, von meinem Optimismus und meiner guten Laune den
anderen ein bißchen abgeben zu können. Ich weiß, daß Lutz solche Passagen nicht
so mag. Er kämpft lieber als Radfahrer und als solcher ist er - besonders an
langen Anstiegen - für mich meist unschlagbar. Sein: "... besser als
gestern!" klingt schon recht positiv.
Unsicherheit kommt auf, als sich der Weg
gabelt. Wir wählen die rechte Variante. Solange uns dieser Weg nicht ins
Rio-Grande-Tal hinunter führt, sind wir richtig. Inzwischen hat sich das Umfeld
verändert. Um uns herum liegen ungleichmäßig verstreut übermannshohe Felsen
herum. Die bizarrsten Formen sind zu sehen: Ein Fels scheint einen
Elefantenkopf darzustellen, der einem Rüssel nach oben reckt. Dieser Rüssel ist
filigran und so abgewinkelt, das man befürchtet, er bricht bald ab.
Meter für Meter klettern wir höher. Mal geht
es flach dahin, mal sind kräftezehrende Steilstücke zu passieren. "Bei
4000 Meter Höhe machen wir Mittag", gebe ich die Parole aus, das sind
reichlich fast 500 schwere Höhenmeter seit dem Start am Morgen. Keiner legt
Veto ein trotz der noch bevorstehenden Hundert Höhenmeter . "Hier ist´s
schön für die Pause", ruft Thomas. Kontrollblick zum Höhenmesser:
"Wir sind erst auf 3980, müssen noch ein Stück! Erst bei 4000, nicht
eher!", stoße ich nach Luft schnappend hervor und knüppel weiter. Thomas
gibt was von sich, klingt wie "Sturer Kerl!"Tage später lachen wir
darüber. Ich bin eben Statiker, Zahlen sind für mich etwas exaktes,
unverrückbares. Thomas ist Architekt, eben auch etwas Künstler. Da ist ein
schöner Fels wichtiger als nüchterne 20 Höhenmeter.
Später machte ich mir Gedanken, ob die
wenigen Höhenmeter so wichtig waren. Auf 4000 Metern Höhe ist Thomas fix und
alle und nimmt sich nicht mehr die Zeit, eine geeignete Liegestelle zu suchen.
Er läßt sich neben einen Felsen fallen, der kaum Schatten bietet - wir befinden
uns schließlich zwischen Äquator und Wendekreis. Ungeachtet der Sonnenstrahlung
und Hitze dusselt er ein. Als wir nach einer reichlichen Stunde weiter wollen,
haben wir ein Problem: Thomas klagt über Kopfschmerzen, bittet um eine Tablette
und weitere Ruhezeit. Doch es wird nicht besser. Noch eine Tablette, noch eine
Pausenverlängerung. Gegen 17 Uhr, das Ende des Tages ist verdammt nahe, brechen
wir endlich auf. Noch Hundert Höhenmeter machen wir, dann dämmert es und wir
schlagen zwischen den Felsen unser Zelt auf. Ehe es finster wird, klettere ich
auf einen dieser Brocken und schaue mich um. Beim Blick in unsere Fahrtrichtung
durchfährt es mich freudig. In ca. 10 Kilometern Entfernung erhebt sich über
dem schrägen Plateau ein langgestreckter hoher Bergrücken. Laut Karte zweigt am
Fuße dieses Rückens der Weg nach Tatio ab. Daß wir bereits so weit gekommen
sind, hatten wir nicht für möglich gehalten. Haben wir schon mehr Strecke
gemacht als die Kilometerzähler anzeigen? Schon möglich, denn sie beginnen erst
bei einer Mindestgeschwindigkeit zu zählen und die könnten wir bei den vielen
schweren Schiebestrecken oft unterschritten haben.
In der Nacht ist es zwar recht kühl, aber
noch erträglich. Doch der Blick auf das Thermometer am nächsten Morgen beim
Aufstehen läßt uns noch nachträglich zittern: -10° C ! Wegen der geringen
Luftfeuchte spürt man diese Kälte nicht so sehr. Beim Frühstück entfachen wir
ein kleines Lagerfeuer. Doch bald wärmt uns auch die aufgehende Sonne. Wenige
Kilometer nach unserem Start gabelt sich der Weg. Die Piste geradeaus dürfte
auf direktem Weg zu den Tatio-Geysiren führen. Wir aber müssen die rechte Piste
wählen und über das Dorf Tatio fahren. Denn nur so haben wir eine Chance,
unsere inzwischen knapp gewordenen Wasser- und Lebensmittelvorräte zu ergänzen.
Diese Piste scheint seit Monaten nicht mehr befahren worden sein, der Belag ist
deshalb sehr locker. Trotz daß es leicht bergab ins Tal des Rio Grande geht,
müssen wir auch hier oft schieben. Doch beruhigt stellen wir fest, daß Karte
und gewählte Piste recht gut übereinstimmen. Immer mehr nähern wir uns dem
Oberlauf des Rio Grande, der noch tief unter uns dahin fließt. Die Piste
schmiegt sich an den Hang, ist geröllübersäht, teilweise regelrecht
verschüttet. Kein Auto kommt hier mehr durch. Mit dem Fahrrad ist es machbar,
wobei das Fahrrad oft über Steine gehoben werden muß. Das zehrt verdammt sehr
an den Kräften. Die Piste bleibt nun fast auf gleichbleibender Höhe und so
nähern wir uns nur langsam der ersehnten, allmählich ansteigenden Talsohle. Als
wir sie an der Vereinigung zweier Flüsse erreichen, gönnen wir uns ein Bad. Wir
nehmen den aus Richtung Geysiren kommenden Flußlauf und haben das Gefühl,
leicht angeheiztes Badewasser genießen zu können. Unser Thermometer zeigt 18°
Wassertemperatur an, das ist ungewöhnlich für diese Höhe, ca. 4000 Meter. Die
Luft hat nur 8°C und bei dem Wind ziehen wir nach dem Bad in größter Eile die
Sachen wieder an. Obwohl das Flußwasser als Trinkwasser keinen
vertrauenserweckenden Eindruck macht, füllen wir vorsichtshalber unsere
Flaschen. Notfalls, falls wir nichts besseres finden, hilft uns die Chemie und
der Kocher, aus der trüben Brühe verträgliches Trinkwasser zu machen.
Um in das Dorf Tatio zu gelangen, wählen wir
die am rechten Flußlauf entlang führende Piste. Wir kommen uns vor wie auf der
Autobahn, den sie läßt sich ohne größere Schwierigkeiten befahren. Doch unser
Elan wird jäh gebremst. Thomas hat seine Handschuhe bei der Badepause liegen
lassen und muß nochmals zurück.
Nach einer knappen Stunde liegt das
wunderschöne Flußtal hinter uns, vor uns türmen sich große graue Abraumhalden,
daneben entdecken wir Ruinen ehemaliger Wohnhäuser. Das mußTatio sein, doch es
ist ein Geisterdorf, wohl schon vor Jahren verlassen. Kein Trinkwasser, keine
Lebensmittel. Nun müssen wir den Gürtel enger schnallen und hoffen an den
Geysiren auf Touristen zu treffen. Wie weit es bis dahin ist - wir wissen es
nicht genau.
Wir haben dieses Geisterdorf schon beinah
hinter uns, als zwei kläffende Hunde auf mich zu laufen. Wo Hunde sind, sind
meistens auch Menschen, denke ich. Nun sehe ich auch die Hütte, die irgendwie
anders aussieht.. Sie hat noch ein intaktes Dach und ganze Fenster. Hoffnung
keimt auf. Schnell habe ich die Tür erreicht, sie ist offen. Im Inneren stehen
Tische, darauf liegen Servietten.. Eine Kochstelle, Tee, Brot, Kerzen - hier
muß jemand sein. Ich inspiziere weitere Türen, hinter der letzten bewegt sich
etwas. Von einem Bett springt ein überraschter, kleiner, etwas zerlumpt
aussehender Mann. Er freut sich und ist erstaunt, daß wir mit dem Fahrrad hier
sind. Ohne Umschweife setzt er Teewasser auf und lädt uns ein. dabei schüttelt
er immer wieder den Kopf und nuschelt durch seine Zähne: "Alemanias,
Alemanias mit Fahrrädern" (in Spanisch bitte!!!!). Es gibt reichlich
zu essen, zu trinken und es ist windgeschützt und warm. Wunderschön warm! .
Nach den Strapazen der letzen vier Tage tut das unendlich gut. Wir sind
glücklich, alle vier. Wir schwatzen und verstehen uns gut, obwohl wir uns nicht
so gut verstehen - zu wenige Spanischvokabeln haben wir intus. Roberto, so
heißt unser Gastgeber, zeigt uns Bilder, die er von anderen Reisenden
zugeschickt bekam. Die Überraschung ist groß, als wir ein bekanntes Gesicht
entdecken: Matthias, ein weltumradelnder Schweizer, hatten Lutz und ich 1997 am
Bermejo-Paß (3850 m) zwischen Argentinien und Chile getroffen, inzwischen war
er also auch hier durchgekommen. Wir nehmen uns fest vor, Roberto auch Fotos
von uns zu schicken, und ein Flipalbum dazu, denn seines quillt schon über.
"Roberto, wieviel Kilometer sind es bis
zu den Geysiren?" "20". Nur! Es ist 16 Uhr, zwei Stunden haben
wir noch, das ist zu schaffen. Wir lassen uns den Weg erklären und brechen
zügig auf. Die Pisten sind mit einem Straßenhobel präpariert, haben meist
"Wellblechbelag", aber es läßt sich verhältnismäßig gut fahren. Kein
Vergleich zu den vergangen zwei Tagen. Wir genießen es, treten kräftig in die
Pedale, die Steigungen meistern wir, als würde es flach dahin gehen. Wir sind
happy, weil wir noch heute abend an den Geysiren sein werden. Einmal verfranzen
wir uns zwar noch, aber das zählt nicht mehr! Es kostet uns nur zusätzliche
drei Kilometer und etwas von der knapp gewordenen Zeit, in der es noch hell
sein wird. Kurz vor 18 Uhr stehen wir auf dem "Paso Vizchachas" in
4450 Metern Höhe. Die Sonne steht knapp über dem Horizont und taucht die sanft
gewellten Hügel unter uns leuchten im Streiflicht, bringen ihr Relief voll zur
Geltung. Es ist traumhaft. Schade, daß wir keine Zeit haben. Lutz wartet einige
Hundert Meter unterhalb des Passes ungeduldig, während Thomas und ich ein paar
unvergeßliche Fotos machen. Dann rasen wir weiter. An einem Campamento, keine
Menschenseele ist zu sehen, glaubten wir da zu sein, doch keine dampfenden
Geysire sind zu sehen. Nochmals drei Kilometer, erst dann sind wir am Ziel. Für
das Naturschauspiel, das ohnehin erst am nächsten Morgen voll zu erleben sein
wird, haben wir kaum ein Auge, in den letzten Minuten schwachen Tageslichts
bauen wir unsere Zelt auf. Als wir fertig sind, die Schlafsäcke und Matten
eingeräumte haben, ist es stockfinster und ein wunderschöner Sternenhimmel
funkelt über die eiskalte Nacht des Taitiofeldes. Erst jetzt wird es uns
bewußt: Wir haben es geschafft. Das erste große Ziel unser anspruchsvollen Tour
ist erreicht.