Auszug aus dem Erlebnisbericht einer Radtour durch Nordchile, Bolivien und Südperu

Autor: Jens-U. Groß

Irrfahrt zum Tatio

KartenskizzeOrtsausgang Rio Grande, ein kleines Dorf in den nordchilenischen Anden in 3200 Meter Höhe. Heftig schüttelt der Pick-Up-Fahrer mit dem Kopf. Mit dem Fahrrad nach Machuca? No posible! Seinen weiteren Redeschwall können wir mangels bekannter Vokabeln nicht mehr verstehen. Diese erste Warnung schlagen wir in den Wind. Die chilenische Straßenkarte mit dem dünnen Strich bis zum Tatio straft den Einheimischen Lügen, auch die Information des Touristenbüro von Calama war eindeutig. Es muß neben den beiden in der Touristikliteratur angegeben Pisten zum Tatio-Geysir eine dritte Variante geben, die uns 1000 Höhenmeter erspart. Diese zu finden und zu meistern haben wir uns in den Kopf gesetzt.

Mit ungebrochenem Optimismus strampeln wir deshalb die Piste am Ufer des Rio Grande weiter aufwärts. Wenige Minuten später müssen wir den Fluß queren. Brücken gibt‘s hier oben keine mehr. Schuhe und Socken aus, Hosen hochgekrempelt -, durch. Die kalten Fluten umspülen unsere nach Halt suchenden Füße und die wasserdichten Ortlieb-Packtaschen. Letzter bieten dem Wasser jedoch eine große Angriffsfläche und wir sind froh, das rettende andere Ufer ohne Ausrutscher zu erreichen.

Die zweite Warnung naht in Gestalt einer alten Indiofrau, die mit ihrem Enkel Schafe talabwärts treibt. Ein kurzer Schwatz mit Händen und Füßen. Handbewegung und Kopfschütteln sind eindeutig: Mit dem Fahrrad nach Machuca? No posible! Noch immer mit dem Kopf schüttelnd tappert sie weiter. Diese Gringos! Doch wir wollen nach Machuca und weiter zu den Tatio-Geysiren! Zurück? Niemals! Wir werden’s schon schaffen.

Das Tal verengt sich, der Weg schmiegt sich an den Hang. Hier ist Schluß für jedes noch so geländegängiges Fahrzeug. Dritte Warnung! Doch mit dem Fahrrad kommen wir durch, können nach der Engstelle sogar wieder in den Sattel steigen. Also weiter.

Kurz darauf ist der Fluß zu queren. Der Weg dahinter ist ernüchternd, aber auch diese vierte Warnung nehmen wir nicht wahr, nur in Lutz seine Gesichtszüge mischen sich zunehmend Zweifel: Das Flußtal verlassend steigt er am Hang stetig und kräftig an und verschwindet ca. 150 Höhenmeter weiter oben hinter dem Kamm. Unsere Füße krallen sich in den lockeren Belag, rutschen zurück, die Arme zerren am Fahrrad, das mit je 25 kg Gepäck und 10 Litern Wasser reichlich bepackt ist. Nur mühsam überwinden wir die Gesetze der Gravitation und schinden uns zwei Stunden lang. Als es zu schwer wird, lösen wir von unseren Packtaschen die Riemen und verwenden sie als Tragegurt. Wie die Wolgtreidler stemmen wir uns in den Riemen, den wir durch den Rahmen gezogen haben. So Können wir die Räder wenigstens ein wenig aus den losen Untergrund herausheben. Der Rücken schmerzt entsetzlich durch die ungewohnte Belastung. Hätten wir nicht doch umdrehen sollen, vielleicht an der letzten Flußquerung? Doch jetzt haben wir diesen Paß bezwungen, 3510 Meter zeigt der Höhenmesser, jetzt geht es bergab. Also weiter nach Machuca!

Von weitem sehen wir ihn auf einem Fels sitzen, einen spinnenden und Schafe hütenden Indio - unsere fünfte Warnung. Bis nach Machuca seien es noch acht Kilometer, nur bergauf und eine Wegebesserung ist nicht in Sicht. Doch wir hoffen auf bessere Piste ab Machuca und kämpfen uns weiter über den geröllbedeckten Weg, der bald zum Eselspfad mutiert.

An einer schmalen Stelle kommen das Fahrrad und ich kaum noch nebeneinander durch. Ich schleife mein Gefährt mit seinen ausladenden Packtaschen dicht am senkrecht ansteigenden Felshang entlang, habe kaum Platz für mich zwischen Fahrrad und Abhang. Als der Stein, auf dem ich stehe, unter mir nachgibt, kann ich schnell noch einen rettenden Schritt vorwärts machen und erreiche ein breiteres Wegstück. Ich schaue mich um und mir wird bewußt, daß ich zwar den Sturz in den Bach drei Meter unter mir voraussichtlich erst mal lebend überstanden hätte, das nachstürzende Fahrrad samst Gepäck aber hätte mich wohl erschlagen. Noch etwas zitternd vor Schreck warne ich meine beiden Nachfolger. Lutz entdeckt an den Felsen eine warnende Aufschrift: "Achtung hier nicht mit Eseln weiter gehen." Und möchte am liebsten umkehren. Doch der Gedanke den Weg mit seinen Strapazen wieder in entgegengesetzter Richtung zu bewältigen ist genauso schrecklich wie der Weg vor uns. Also weiter! Gemeinsam balancieren wir die Räder über die Engstelle und gehen weiter .

Gegen 17 Uhr hat einer von uns mit ernsthaften Ermüdungserscheinungen zu kämpfen. Als wir noch einen zweihundert Meter langen Abschnitt passiert haben, wo wir Fahrrad und Gepäck nur einzeln durchbugsieren können und so jeder drei oder viermal gehen mußte, stellen wir die Fahrräder ab. Während Lutz auf unsere Utensilien aufpaßt, pilgern Thomas und ich weiter, um einen Platz fürs Zelt ausfindig zu machen. Wir laufen 10 Minuten talaufwärts. Der Weg scheint sich fast zu verlieren. Da es bis Machuca nicht mehr weit sein kann, geht Thomas zurück, ich erkunde den weiteren Weg. Im Eilmarsch, soweit meine Kräfte dies noch hergeben, laufe ich weiter. Die Einsamkeit der Berge hat mich eingeschlossen. Es ist ein tolles und gleichzeitig beängstigendes Gefühl. Als sich das sonst so enge Tal weitet, glaube ich , Machuca erreicht zu haben. Nur hier kann das Dorf sein, davon bin ich überzeugt. Doch bald bietet sich meinen Augen eine große, mit gelben Gras bedeckte, sumpfige Talweitung. Keine Menschenseele und keine Behausung ist zu entdecken. Doch hier, wo es flach ist, wird der Weg besser. Ich schaue vor mir auf den Pfad und entdecke - kaum zu glauben - Motorradspuren! Ist doch ein Dorf in der Mähe? Also weiter bis zur die nächste Talbiegung. Nun ist eine Stunde vergangen, von einer Anhöhe habe ich Blick auf die nächsten 3 .. 4 Kilometer des Tales, es ist unbewohnt! Ich kehre enttäuscht um, am Ende meiner Kräfte.

Auf dem Rückweg wird mir bewußt, was es bedeutet, diesen Abschnitt mit Gepäck und Fahrrad zu bewältigen. Auf weiten Strecken müßte Fahrrad und Gepäck einzeln befördert werden, ein zeit-, nerv- und kraftraubendes Pensum. Bis nach Machuca bräuchten wir noch mehr als einen halben Tag, mindestens. Was danach kommt, wissen wir auch nicht. Zu den anderen zurückgekehrt, teile ich Ihnen das Ergebnis meines Marsches mit und empfehle die Umkehr.

Wir waschen uns im kalten Bach, schlürfen ein Süppchen und kuscheln uns in die Schlafsäcke. Die Entscheidung, in welche Richtung wir unsere Schritte lenken werden, heben wir für den nächsten Morgen auf. Beim Frühstück in der Morgendämmerung diskutieren wir nicht mehr lange herum. Wir sind uns einig, es geht zurück. Zu ungewiß wäre der Weg talaufwärts gen Machuca, dessen Existenz wir langsam bezweifeln.

Auf dem Rückweg ist alles einfacher als befürchtet. Bereits 12 Uhr sind wir in Rio Grande und treffen den Pickup-Fahrer wieder. Er schmunzelt und zeigt, wie schon 24 Stunden vorher, auf den mächtigen Gebirgszug jenseits des Rio-Grande-Flusses. Die für uns nicht sichtbare aber in unseren Karten ebenfalls eingetragene Piste führt zu den Tatio-Geysiren und sei mit dem Fahrrad passierbar. "Con Vehiculo a Tatio?" fragen wir und zeigen auf ihn, seinen Pickup, auf uns und unsere Fahrräder. Uns drängt die Zeit, der Weg durch Bolivien bis nach Cusco in Peru ist noch weit. Doch ein Kopfschütteln läßt uns die verlockende Vorstellung wieder vergessen, auch die Suche nach anderen Mitfahrgelegenheiten ist erfolglos. Die Straße sei zu schlecht, redet man sich heraus. "A Carretera possible". Bis zur Asphaltpiste Calama - San Pedro könne man uns bringen. Das wäre auch nicht ganz schlecht, doch wir scheitern an den Preisverhandlungen. Der Fahrer kratzt mit einem Dorn eine 25.000 auf seinen Handrücken, das sind fast 100 DM für 40 Kilometer. Für chilenische Verhältnisse etwas überspannt, meinem wir, füllen alle Wasserflaschen auf, schwingen uns in die Sattel und strampeln noch acht Kilometer zurück an die Stelle, wo wir zwei Tage vorher gezeltet haben. Hier zweigt die Piste zum Tatio ab. Wir sind uns unschlüssig. Fahren wir zurück zur Asphaltstraße, weiter nach San Pedro de Atacama und über die "offizielle" Piste zu den Geysiren - das sind weit mehr als zweitausend Höhenmeter, knapp 200 meist unbefestigte Kilometer und dauert drei bis vier Tage. Oder lassen wir uns auf ein neues Abenteuer mit ungewissen Ausgang und schlecht abschätzbaren Zeitaufwand ein und wählen die voraussichtlich kaum befahrene aber mit 90 Kilometer kürzere Piste?. Zwei Tage mindestens, eher drei oder vier, vermuten wir. Aber es sind nur knappe tausend Höhenmeter.

Die ersten paar Hundert Meter der direkten Piste führen so steil hinauf, daß wir die Räder stehen lassen und zu Fuß die Lage sondieren. Der Belag der Piste besteht aus lockerem feinen Schotter und Sand, es ist ernüchternd. Fast haben wir uns zum Umweg über San Pedro entschlossen, als wir scheinbar fast gut befahrbare Pistenabschnitte erreichen. Uns alle lockt das Abenteuer, dieses schier endlos vor uns liegende stetig ansteigende Plateau zu meistern, es doch auf der uns in den Kopf gesetzten dritten Variante zu schaffen. Wir kehren zu unseren Rädern zurück, buckeln sie das Steilstück hinauf, schwingen uns in den Sattel und kurbeln der Ungewißheit entgegen.

Die gut befahrbaren Abschnitte sind kurz. Absteigen, schieben und zerren, bis der lockere und/oder steile Abschnitt hinter mir liegt. Das dauert manchmal lange, ist nervend. War es doch falsch, diesen Weg einzuschlagen? Nein, ich will weiter auf diesem Weg, diesem direkten. Auf schon bekanntem Weg nun doch zurück zur Asphaltpiste fahren zu müssen, über San Pedro zum Tatio mit einem Höhenunterschied von fast 2000 Metern, und dann auf gleichem Weg zurück - dieser Gedanke ist schreckt mich ab. Mit wilder Entschlossenheit kämpfe ich mich durch die vielen Schiebeabschnitte und hoffe daß keiner meiner Gefährten auf die Idee kommt, umzukehren. Weiter, weiter, weiter. Irgendwie und irgendwann werden wir am Tatio sein und die Geysire bewundern!

Es ist eine riesige geneigte Ebene, über die wir uns nach oben kämpfen. Die Horizontlinie vor uns liegt weit weg, doch was ist dahinter? Diese Frage treibt uns vorwärts. Die Antwort ist meist ernüchternd. Haben wir eine solche imaginäre Linie erreicht, bietet der Blick dahinter meist nichts neues, soweit das Auge reicht. Am späten Nachmittag Piste kreuzt unsere Piste eine wie mit dem Lineal gezogene Gerade, die sich durch die riesige Schotterebene von Norden aus dem Nirgendwo kommend in Richtung Süden bis zur nahen Hangkante hinzieht, wo das Plateau jäh steil in das Tal des Rio Grande abfällt. Eine mannshohe Steinpyramide ist uns ein willkommener Fahrradständer und Gelegenheit für Thomas, nach seinen Lowriderschellen an der Federgabel zu sehen. Während er und Lutz die durch die Rüttelpisten gelockerten und verrutschten Schellen wieder ausrichten, laufe ich zur Hangkante und entdecke ein Schild: "Camino del Inka". Unsere Ahnung war richtig, wir stehen an einem der legendären Inkawege, die das Reich einst durchzogen und erschlossen.

Zeltmöglichkeiten sind in dieser von Steinen übersäten Fläche rar. Als wir eine halbe Stunde vor der Dämmerung eine kleine sandige Fläche bemerken, gerade groß genug fürs Zelt, beenden wir unser Tagewerk.

Es ist noch beinah dunkel, als das Piepsen meiner Armbanduhr die endlose Stille durchbricht und wir uns aus den Schlafsäcken mühen. Ein langer ungewisser Tag beginnt. Ein kurzes stärkendes Frühstück und los geht´s - mit Schieben. Sand, Schotter, Steigung - Fahren unmöglich. Dies bleibt den ganzen Tag so, mit nur wenigen Ausnahmen. Doch mein Optimismus und meine Kraft sind ungebrochen. Der Kick des Abenteuers und die physische Herausforderung - ich habe es so gewollt, meine Stimmung ist bestens. Meist bin ich an der Spitze, kämpfe mich Steilstücke hinauf, stelle das Rad ab, laufe zurück und helfe den anderen. "Wo nimmst Du nur die Kraft her", fragt mich Thomas. Irgendwie bin ich absolut gut drauf, so richtig in meinem Element und könnte vor Glück laut jubeln. "Wie ist die Stimmung?", frage ich Lutz und hoffe, von meinem Optimismus und meiner guten Laune den anderen ein bißchen abgeben zu können. Ich weiß, daß Lutz solche Passagen nicht so mag. Er kämpft lieber als Radfahrer und als solcher ist er - besonders an langen Anstiegen - für mich meist unschlagbar. Sein: "... besser als gestern!" klingt schon recht positiv.

Unsicherheit kommt auf, als sich der Weg gabelt. Wir wählen die rechte Variante. Solange uns dieser Weg nicht ins Rio-Grande-Tal hinunter führt, sind wir richtig. Inzwischen hat sich das Umfeld verändert. Um uns herum liegen ungleichmäßig verstreut übermannshohe Felsen herum. Die bizarrsten Formen sind zu sehen: Ein Fels scheint einen Elefantenkopf darzustellen, der einem Rüssel nach oben reckt. Dieser Rüssel ist filigran und so abgewinkelt, das man befürchtet, er bricht bald ab.

Meter für Meter klettern wir höher. Mal geht es flach dahin, mal sind kräftezehrende Steilstücke zu passieren. "Bei 4000 Meter Höhe machen wir Mittag", gebe ich die Parole aus, das sind reichlich fast 500 schwere Höhenmeter seit dem Start am Morgen. Keiner legt Veto ein trotz der noch bevorstehenden Hundert Höhenmeter . "Hier ist´s schön für die Pause", ruft Thomas. Kontrollblick zum Höhenmesser: "Wir sind erst auf 3980, müssen noch ein Stück! Erst bei 4000, nicht eher!", stoße ich nach Luft schnappend hervor und knüppel weiter. Thomas gibt was von sich, klingt wie "Sturer Kerl!"Tage später lachen wir darüber. Ich bin eben Statiker, Zahlen sind für mich etwas exaktes, unverrückbares. Thomas ist Architekt, eben auch etwas Künstler. Da ist ein schöner Fels wichtiger als nüchterne 20 Höhenmeter.

Später machte ich mir Gedanken, ob die wenigen Höhenmeter so wichtig waren. Auf 4000 Metern Höhe ist Thomas fix und alle und nimmt sich nicht mehr die Zeit, eine geeignete Liegestelle zu suchen. Er läßt sich neben einen Felsen fallen, der kaum Schatten bietet - wir befinden uns schließlich zwischen Äquator und Wendekreis. Ungeachtet der Sonnenstrahlung und Hitze dusselt er ein. Als wir nach einer reichlichen Stunde weiter wollen, haben wir ein Problem: Thomas klagt über Kopfschmerzen, bittet um eine Tablette und weitere Ruhezeit. Doch es wird nicht besser. Noch eine Tablette, noch eine Pausenverlängerung. Gegen 17 Uhr, das Ende des Tages ist verdammt nahe, brechen wir endlich auf. Noch Hundert Höhenmeter machen wir, dann dämmert es und wir schlagen zwischen den Felsen unser Zelt auf. Ehe es finster wird, klettere ich auf einen dieser Brocken und schaue mich um. Beim Blick in unsere Fahrtrichtung durchfährt es mich freudig. In ca. 10 Kilometern Entfernung erhebt sich über dem schrägen Plateau ein langgestreckter hoher Bergrücken. Laut Karte zweigt am Fuße dieses Rückens der Weg nach Tatio ab. Daß wir bereits so weit gekommen sind, hatten wir nicht für möglich gehalten. Haben wir schon mehr Strecke gemacht als die Kilometerzähler anzeigen? Schon möglich, denn sie beginnen erst bei einer Mindestgeschwindigkeit zu zählen und die könnten wir bei den vielen schweren Schiebestrecken oft unterschritten haben.

In der Nacht ist es zwar recht kühl, aber noch erträglich. Doch der Blick auf das Thermometer am nächsten Morgen beim Aufstehen läßt uns noch nachträglich zittern: -10° C ! Wegen der geringen Luftfeuchte spürt man diese Kälte nicht so sehr. Beim Frühstück entfachen wir ein kleines Lagerfeuer. Doch bald wärmt uns auch die aufgehende Sonne. Wenige Kilometer nach unserem Start gabelt sich der Weg. Die Piste geradeaus dürfte auf direktem Weg zu den Tatio-Geysiren führen. Wir aber müssen die rechte Piste wählen und über das Dorf Tatio fahren. Denn nur so haben wir eine Chance, unsere inzwischen knapp gewordenen Wasser- und Lebensmittelvorräte zu ergänzen. Diese Piste scheint seit Monaten nicht mehr befahren worden sein, der Belag ist deshalb sehr locker. Trotz daß es leicht bergab ins Tal des Rio Grande geht, müssen wir auch hier oft schieben. Doch beruhigt stellen wir fest, daß Karte und gewählte Piste recht gut übereinstimmen. Immer mehr nähern wir uns dem Oberlauf des Rio Grande, der noch tief unter uns dahin fließt. Die Piste schmiegt sich an den Hang, ist geröllübersäht, teilweise regelrecht verschüttet. Kein Auto kommt hier mehr durch. Mit dem Fahrrad ist es machbar, wobei das Fahrrad oft über Steine gehoben werden muß. Das zehrt verdammt sehr an den Kräften. Die Piste bleibt nun fast auf gleichbleibender Höhe und so nähern wir uns nur langsam der ersehnten, allmählich ansteigenden Talsohle. Als wir sie an der Vereinigung zweier Flüsse erreichen, gönnen wir uns ein Bad. Wir nehmen den aus Richtung Geysiren kommenden Flußlauf und haben das Gefühl, leicht angeheiztes Badewasser genießen zu können. Unser Thermometer zeigt 18° Wassertemperatur an, das ist ungewöhnlich für diese Höhe, ca. 4000 Meter. Die Luft hat nur 8°C und bei dem Wind ziehen wir nach dem Bad in größter Eile die Sachen wieder an. Obwohl das Flußwasser als Trinkwasser keinen vertrauenserweckenden Eindruck macht, füllen wir vorsichtshalber unsere Flaschen. Notfalls, falls wir nichts besseres finden, hilft uns die Chemie und der Kocher, aus der trüben Brühe verträgliches Trinkwasser zu machen.

Um in das Dorf Tatio zu gelangen, wählen wir die am rechten Flußlauf entlang führende Piste. Wir kommen uns vor wie auf der Autobahn, den sie läßt sich ohne größere Schwierigkeiten befahren. Doch unser Elan wird jäh gebremst. Thomas hat seine Handschuhe bei der Badepause liegen lassen und muß nochmals zurück.

Nach einer knappen Stunde liegt das wunderschöne Flußtal hinter uns, vor uns türmen sich große graue Abraumhalden, daneben entdecken wir Ruinen ehemaliger Wohnhäuser. Das mußTatio sein, doch es ist ein Geisterdorf, wohl schon vor Jahren verlassen. Kein Trinkwasser, keine Lebensmittel. Nun müssen wir den Gürtel enger schnallen und hoffen an den Geysiren auf Touristen zu treffen. Wie weit es bis dahin ist - wir wissen es nicht genau.

Wir haben dieses Geisterdorf schon beinah hinter uns, als zwei kläffende Hunde auf mich zu laufen. Wo Hunde sind, sind meistens auch Menschen, denke ich. Nun sehe ich auch die Hütte, die irgendwie anders aussieht.. Sie hat noch ein intaktes Dach und ganze Fenster. Hoffnung keimt auf. Schnell habe ich die Tür erreicht, sie ist offen. Im Inneren stehen Tische, darauf liegen Servietten.. Eine Kochstelle, Tee, Brot, Kerzen - hier muß jemand sein. Ich inspiziere weitere Türen, hinter der letzten bewegt sich etwas. Von einem Bett springt ein überraschter, kleiner, etwas zerlumpt aussehender Mann. Er freut sich und ist erstaunt, daß wir mit dem Fahrrad hier sind. Ohne Umschweife setzt er Teewasser auf und lädt uns ein. dabei schüttelt er immer wieder den Kopf und nuschelt durch seine Zähne: "Alemanias, Alemanias mit Fahrrädern" (in Spanisch bitte!!!!). Es gibt reichlich zu essen, zu trinken und es ist windgeschützt und warm. Wunderschön warm! . Nach den Strapazen der letzen vier Tage tut das unendlich gut. Wir sind glücklich, alle vier. Wir schwatzen und verstehen uns gut, obwohl wir uns nicht so gut verstehen - zu wenige Spanischvokabeln haben wir intus. Roberto, so heißt unser Gastgeber, zeigt uns Bilder, die er von anderen Reisenden zugeschickt bekam. Die Überraschung ist groß, als wir ein bekanntes Gesicht entdecken: Matthias, ein weltumradelnder Schweizer, hatten Lutz und ich 1997 am Bermejo-Paß (3850 m) zwischen Argentinien und Chile getroffen, inzwischen war er also auch hier durchgekommen. Wir nehmen uns fest vor, Roberto auch Fotos von uns zu schicken, und ein Flipalbum dazu, denn seines quillt schon über.

"Roberto, wieviel Kilometer sind es bis zu den Geysiren?" "20". Nur! Es ist 16 Uhr, zwei Stunden haben wir noch, das ist zu schaffen. Wir lassen uns den Weg erklären und brechen zügig auf. Die Pisten sind mit einem Straßenhobel präpariert, haben meist "Wellblechbelag", aber es läßt sich verhältnismäßig gut fahren. Kein Vergleich zu den vergangen zwei Tagen. Wir genießen es, treten kräftig in die Pedale, die Steigungen meistern wir, als würde es flach dahin gehen. Wir sind happy, weil wir noch heute abend an den Geysiren sein werden. Einmal verfranzen wir uns zwar noch, aber das zählt nicht mehr! Es kostet uns nur zusätzliche drei Kilometer und etwas von der knapp gewordenen Zeit, in der es noch hell sein wird. Kurz vor 18 Uhr stehen wir auf dem "Paso Vizchachas" in 4450 Metern Höhe. Die Sonne steht knapp über dem Horizont und taucht die sanft gewellten Hügel unter uns leuchten im Streiflicht, bringen ihr Relief voll zur Geltung. Es ist traumhaft. Schade, daß wir keine Zeit haben. Lutz wartet einige Hundert Meter unterhalb des Passes ungeduldig, während Thomas und ich ein paar unvergeßliche Fotos machen. Dann rasen wir weiter. An einem Campamento, keine Menschenseele ist zu sehen, glaubten wir da zu sein, doch keine dampfenden Geysire sind zu sehen. Nochmals drei Kilometer, erst dann sind wir am Ziel. Für das Naturschauspiel, das ohnehin erst am nächsten Morgen voll zu erleben sein wird, haben wir kaum ein Auge, in den letzten Minuten schwachen Tageslichts bauen wir unsere Zelt auf. Als wir fertig sind, die Schlafsäcke und Matten eingeräumte haben, ist es stockfinster und ein wunderschöner Sternenhimmel funkelt über die eiskalte Nacht des Taitiofeldes. Erst jetzt wird es uns bewußt: Wir haben es geschafft. Das erste große Ziel unser anspruchsvollen Tour ist erreicht.

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